Aggression und Selbstwert
Aggression ist ein Forschungsgebiet, mit dem sich vor allem Sozialpsychologen schon lange auseinander setzen. Eine ganze Bandbreite an wissenschaftlicher Literatur wird uns in Online-Datenbanken angeboten. Betrachtet man ein weiteres großes Gebiet der psychologischen Forschung, den Selbstwert des Menschen, ist es schon erstaunlich, dass sich gerade an der Schnittstelle zur Aggressionsforschung hier gar nicht so viel zu tun scheint. Ist es nicht ein Thema, mit dem man sich vielleicht schon intuitiv in seinem Alltag auseinandergesetzt hat? Ist es nicht der Jugendliche, der nicht gerne alleine in seinem Zimmer weint und sich deswegen eine Gruppe lautstarker Halbstarker sucht, durch die er sein eigenes niedriges Selbstwertgefühl zu kompensieren möchte? Sind es nicht genau diese Gruppen, die durch ihre Gewalttaten Aufsehen erregen, um sich, fern von ihrer gefühlten Unzulänglichkeit, selbst ein bisschen größer und stärker zu fühlen? Oder ist vielleicht der gewalttätige Ehemann der Nachbarin gar kein sadistischer Schläger, sondern nur ein armes Kerlchen, das auch einmal gehört werden möchte?
Ausmalen und vielleicht logisch begründen können wir uns viel, doch da die Psychologie nun mal eine empirische Wissenschaft ist, haben es sich schließlich doch ein paar Forscherjungs zur Aufgabe gemacht, die genauen Zusammenhänge zwischen dem Selbstwert des Menschen und seiner vielleicht daraus resultierenden Aggressivität genauer zu ergründen.
Betrachten wir uns erst einmal den Begriff des hohen Selbstbewusstseins. Assoziieren wir einfach drauf los, fallen uns bestimmt einige positive Beispiele und illustre, starke Persönlichkeiten ein, denen wahrscheinlich ein gesundes Selbstwertgefühl zu Eigen ist. Leichter vergessen viele allerdings, dass auch diese Eigenschaft, wie so viele, ein zweischneidiges Messer ist. Die andere Seite hohen Selbstbewusstseins stellen Geltungsbedürfnis, Arroganz, Eitelkeit und Narzissmus dar, wobei wir hier nicht mehr unbedingt von einer gesunden Selbsteinschätzung reden würden.
Genau solche Eigenschaften wurden in der Literatur, und vor allem durch Scully, allerdings immer wieder bei Gewaltstraftätern und Vergewaltigern beobachtet. Sie hatten ihm gegenüber spontan, ohne jegliche Aufforderung, über sich als multitalentierte Supertypen berichtet und prahlten immer wieder mit ihrem sexuellen Können. Alleine deswegen ist die bisherige intuitive Sichtweise, wohl in Frage zu stellen. Hingegen waren schüchterne, sich selbst herabwürdigende oder bescheidene Persönlichkeiten hier nur sehr unterrepräsentiert zu finden.
Genau dies taten Baumeister und seine Kollegen, als sie 93 Probanden zu einem Videospielexperiment einluden. Vorher wurden diese in zwei Gruppen, eine mit, nach standardisierten Tests, höherem und eine mit niedrigerem Selbstwertgefühl.
Die Teilnehmer spielten um Geld, wobei sie pro Runde einen selbstgewählten Betrag auf ihr eigenes Können im nächsten Trial setzen sollten. Das erstaunliche Ergebnis war, dass die Probanden mit hohem Selbstbewusstsein nach einer verlustreichen Runde mehr Geld auf ihre geschätzte Leistung in der nächsten Runde setzten, während die andere Gruppe in der nächsten Runde weitaus weniger Geld einsetzte. Zweites kann dadurch erklärt werden, dass die Versuchspersonen nach einem verlorenen Spiel an ihren Fähigkeiten zweifelten, während die selbstbewusste Gruppe sich nach einem Verlust irrational überschätzte, um sich selbst weiterhin in positivem Licht sehen zu können. Daraus entstand die sogenannte Ego-threat-Theorie.
Alltagsnähere Beispiele weisen in eine ähnliche Richtung. Es ist zum Beispiel empirisch belegt, dass Männer ein leicht höheres Selbstbewusstsein aufweisen, als Frauen. Die Daten sagen uns gleichzeitig, dass bei Männern die Wahrscheinlichkeit 5-50x höher ist eines Tages in einem Gefängnis aufzuwachen.
Die klinische Depression ist eine der wenigen psychischen Krankheiten, die eindeutig aggressives Verhalten verringert. Es ist auch die Krankheit, zu deren Leitsymptomen ein stark vermindertes Selbstwertgefühl zählt.
Die Ego-threat-Theorie der Aggression
In weiteren Studien zeichnete sich ein immer deutlicheres Bild davon ab, dass nur eine ganz bestimmte Art des Selbstwertgefühls in direktem Zusammenhang mit aggressivem Verhalten steht. Das Selbstwertgefühl der Probanden war nie ein stabiles, gesundes und realistisches, sondern entsprach genau dem Gegenteil. Solche Züge können wir vor allem in der narzisstischen Persönlichkeitsstörung sehr gut verkörpert sehen. Diese äußert sich unter anderem in mangelndem Selbstbewusstsein und Ablehnung der eigenen Person nach innen, wechselnd mit übertriebenem und sehr ausgeprägtem Selbstbewusstsein nach außen. Daher sind diese Personen immer auf der Suche nach Bewunderung und Anerkennung, wobei sie anderen Menschen wenig echte Aufmerksamkeit schenken. Sie haben ein übertriebenes Gefühl von Wichtigkeit, hoffen eine Sonderstellung einzunehmen und zu verdienen. Außerdem zeigen sie ausbeutendes und aggressives Verhalten und einen Mangel an Empathie. Es können auch wahnhafte Störungen mit Größenideen auftreten. Zudem zeigen Betroffene eine auffällige Empfindlichkeit gegenüber Kritik, die sie nicht selten global verstehen, was in ihnen Gefühle der Wut, Scham oder Demütigung hervorruft. Dass sich gerade diese Störung auch durch erhöhte Aggressionsbereitschaft ausdrückt dürfte die Ego-threat-Theorie bekräftigen.
Der typische Narzisst
???
Menschen mit dem pathologische Störungsbild der Psychopathie, das eine Prävalenz von nur rund 1% aufweist, zeigen ebenfalls ein erheblich übersteigertes Selbstwertgefühl, Mangel an Gewissensbissen oder Schuldbewusstsein, mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit, Verantwortung für eigenes Handeln zu übernehmen und unzureichende Verhaltenskontrolle. Die beiden ersten Eigenschaften dürften für erhöhte Aggression aufgrund von bedrohungsanfälligem Ego sprechen, die beiden letzten jedoch beeinflussen aggressives Verhalten aber mindestens genauso, wie wir später noch erläutern werden. Trotz der niedrigen Prävalenz wurde bei 15% der amerikanischen Häftlinge genau diese Störung diagnostiziert, wobei bis zu 80% ähnliche, aber noch nicht pathologische Krankheitsmerkmale aufweisen.
Eine Egobedrohung kann also nur entstehen, wenn das eigene Ego nicht vernünftig eingeschätzt, sondern immens übersteigert wird, was sich natürlich niemals mit dem erfahrenen interpersonellen Feedback decken kann, auf das diese Menschen sicherlich stoßen werden. Dieses, in den Augen des Narzissten, oder der allgemein selbstunsicheren Person, ungerechte Feedback wird also als Bedrohung und Gefahr angesehen und muss durch entsprechende, aggressive, oder egostärkende, Aktionen beseitigt werden. Durch hohe Selbstunsicherheit wird gleichzeitig ein größeres Augenmerk auf externes Feedback gerichtet, wodurch sich die erlebte Bedrohung noch vergrößert.
Für diese These spricht auch, dass der Anstieg aggressiven Verhaltens seine Spitze in den späten Teenager Jahren findet, in denen der eigene Selbstwert bekanntermaßen noch unstabil ist und immer neu ausgetestet werden muss. Danach nimmt Aggression in der Bevölkerung im Durchschnitt wieder ab.
Ein weiteres Beispiel, das viele Menschen kennen, ist, dass Alkohol eine, meist als angenehm empfundene, temporäre Steigerung des Selbstbewusstseins mit sich bringt, die allerdings nicht begründet und deshalb labil ist. Das würde auch erklären, dass in einem hohen Prozentsatz aller Gewaltverbrechen auch Alkohol eine große Rolle spielt.
Hingegen wurden Menschen mit hohem, stabilem Selbstbewusstsein als am wenigsten aggressiv getestet.
In früheren Studien ging man davon aus, dass Frustration ein Hauptauslöser für Aggression ist. Berkowitz wendet das Ganze jetzt auf die Ego-threat-Theorie an und sieht Frustration als Folge von Beleidigung und weitet somit die Auslöser auf alle negativen Emotionen aus, die durch Bedrohung des Selbst entstehen. Die einzigen Ausnahmen stellen aber wohl Schuldgefühl und Mitleid dar.
Sehen wir uns also mal dieses neue Modell an und gehen davon aus, dass ein Mensch von einem anderen beleidigt wird. Sein Ego wird dadurch in Frage gestellt, oder bedroht, es entsteht eine Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdbewertung und so entsteht in ihm, ein negatives Gefühl, im Allgemeinen: Aversive Emotionen.
Nun haben wir zwei Möglichkeiten. Entweder wir wehren uns gegen diese Beleidigung und erklären sie am besten als unberechtigt und unfair und können so durch den entstehenden Ärger eine Herunterregulierung des eigenen Egos vermeiden und mit aggressivem Verhalten gegen die ‚Quelle der Bedrohung‘ agieren. Andererseits steht uns frei die Beleidigung als wahr zu akzeptieren und ein sinkendes Selbstwertgefühl in Kauf zu nehmen. Letzteres äußert sich nur allzu oft in Traurigkeit und Depressionen. Wird die Kritik als gerechtfertigt verstanden, reagiert man weniger aggressiv.
Die meisten Menschen korrigieren jedoch ihren Selbstwert lieber nicht nach unten.
1988 stellte Katz fest, dass vor allem auch Straßengewalt oft durch Respektlosigkeit und Erniedrigung entsteht. So kann die Aggression als Selbstschutz und automatischer Abwehrmechanismus von Bedrohung gesehen werden.
Der interpersonelle Aspekt der Aggression
Da sich Gewalt oft nicht in zufällig nach außen gerichteten Impulsen, sondern auf zwischenmenschlicher Ebene zeigt, kann man sie auch als Kommunikationsmittel betrachten, das zwei Parteien zueinander in Beziehung setzt. Hier bekommt die Aggression einen interpersonellen Aspekt.
Beleidigte Individuen versuchen die Quelle der Bedrohung ‚umzuhauen‘, aber auch Gruppen tendieren dazu diejenigen zu attackieren, die ihre Privilegien angreifen.
Dafür können wir, ohne groß zu überlegen, einige Belege in der Geschichte finden. Aggression zwischen Gruppen
und deren Irrationalität können wir an Beispielen wie dem Naziregime,
Massengrab (Holocaust)
aber auch Taten wie Ehrenmorden,
oder dem früher gesellschaftlich üblichen Duell zwischen zwei Männern um Leben und Tod, betrachten, nur weil der eine den anderen auf irgendeiner Weise beleidigt, oder in Frage gestellt hat.
Das Duell- Ehre oder Tod
Kollektive Gewalt finden wir auch bei Gruppen wie dem Ku Klux Klan, die sich gegen die Emanzipation, also die gesellschaftliche ‚Bedrohung‘ durch Afroamerikaner wehren und der Mafia, deren Mitglieder sich selbst als übermenschlich und göttlich betrachten.
http://www.youtube.com/watch?v=y6-izjkPyYg (ausschnitt aus n24 reportage- kkk)
Aber um zum Individuum zurück zu kommen, stellen wir uns die folgende Situation einmal vor. Straßennachwuchsganster 1 ruft Straßennachwuchsgangster 2 auf der Straße etwas hinterher, das indirekt dessen Mutter in ein unschönes Licht rückt. Natürlich hat Gangster 1 nicht die Mittel, um wirklich etwas an der Intelligenz oder dem Wert des Gegenübers zu ändern, vielleicht kennt er die Mutter des Anderen und ihr berufliches Milieu nicht einmal, aber alleine dadurch, dass Nummer zwei zurückschlägt, widerlegt er symbolisch die Richtigkeit der Aussage. Dadurch beweist er an sich nicht das Gegenteil, aber er versucht den Gangster 1 daran zu hindern in Zukunft noch einmal das Gleiche zu tun und ihn fortan mit Respekt zu behandeln, indem er ihn zwingt sein folgendes Verhalten zu ändern. Wenn er sich erfolgreich wehrt und den Gegner ‚eines besseren belehrt‘, übernimmt er in diesem Fall die Dominanz über eine Situation, über einen Menschen, am besten natürlich über den, der ihn beleidigt hat und fühlt sich in seinem Selbstwert wieder bestärkt. Die Gefahr ist vorbei.
Und wer ist jetzt der Stärkere?
Auch ein Motiv vieler Sexualstraftäter ist, sich einmal überlegen zu fühlen, oft auch den Frauen gegenüber, die sich für ‚etwas Besseres‘ halten, die schön und erfolgreich sind. So einer Person einen Moment lang überlegen sein stärkt das Selbstwertgefühl ungemein. So sind die meisten Vergewaltiger wohl nicht körperlich sexuell frustriert, sondern suchen nach psychischer Bestätigung.
Aber auch in der Ehe sehen es manche Männer, oder auch Frauen, als nötig an, dem Partner stets die eigene Überlegenheit, den Besitz des anderen zu demonstrieren und so kann auch ein stillgeschwiegenes Phänomen auftreten, die Vergewaltigung unter Ehepartnern.
In der Forschung finden sich noch zwei weitere Phänomene, die sich mit dem Ausgleich des Selbstwertgefühls beschäftigen. Zum einen herrscht in manchen Gruppen eine sogenannte zero summation Regel, die besagt, dass der Ego Zuwachs des Einen einen Ego Verlust des anderen mit sich bringt. Ein auch in unserer Gesellschaft zu beobachtendes Phänomen ist der all poppy effect. Demnach finden viele Menschen Gefallen am Niedergang einer erfolgreichen mächtigen Person, um ihren eigenen Selbstwert dadurch scheinbar gestärkt zu sehen. In manchen Gruppen gilt Selbstwert als eine teure Ressource und jeder Anspruch darauf bedroht das eigene Ego. Diese Bereiche bedürfen aber noch genauerer Erforschung.
Und so postulierte Katz 1988, dass wohl die meisten Morde und Gewaltverbrechen Antworten auf die Bedrohung des öffentlichen Images, wie Beleidigung, Demütigung und Respektlosigkeit sind.
Aber ich glaube spätestens an dieser Stelle sollten wir beginnen uns zu fragen, wann wir denn das letzte Mal jemandem so richtig in die Fresse geschlagen haben, weil er gemein zu uns war. In den besten, und wahrscheinlich auch meisten Fällen, werden die Antworten wohl so aussehen: „natürlich gar nicht! “, „aus Notwehr…“, oder „im Kindergarten?“. Dabei kommt es doch gar nicht so selten vor, dass wir vor oder hinter unserem Rücken beleidigt werden, oder dass jemand, berechtigt oder unberechtigt, schlecht über uns redet. Warum haben wir vielleicht die Idee an eine spontane aggressive Gegenwehr, können uns aber meistens dann doch ganz gut beherrschen?
Die Antwort liegt bereits im letzten Satz. Weil wir es können. Weil wir ein gesundes Maß an Selbstkontrolle aufgebaut haben.
Selbstkontrolle und Aggression
Die fehlende Selbstkontrolle im Bezug auf aggressives Verhalten wurde lange unterschätzt, wobei sie doch zu einem der einflussreichsten Faktoren zählt, die Gewalt begünstigen. Es gibt, der Sozialpsychologie zufolge, so viele Faktoren, die Gewalt und Aggression fördern, darunter Ärger, Frustration, Deprivation, der Wunsch nach Macht, Gewalt in den Medien, aber auch Umweltfaktoren wie Hitze. Demnach müsste Aggression ein recht übliches Phänomen darstellen und eine häufige Problemlösestrategie. Das ist allerdings nicht so.
1990 gingen zum ersten mal Gottfredson und Hirschi davon aus, dass nicht aggressive von aggressiven Menschen eine besondere Fähigkeit unterscheidet, nämlich dass die Ersten aggressive Impulse oder potentiell aggressives Verhalten meistens inhibieren, also blocken können, um dieses zu verhindern. Sie begannen das Wesen der Gewalt in allgemeineren Zusammenhängen verstehen zu wollen und entwickelten somit die General Theory of Crime.
Wenn man Gefängnisinsassen betrachtet, die schon öfters straffällig geworden sind, dann beobachtet man etwas Erstaunliches. Meistens gibt es gar nicht den Vergewaltiger, oder den Kerl, der sein Leben lang versucht eine Bank auszurauben. Die wenigsten Straftäter haben sich einer professionellen kriminellen Karriereschiene verschrieben. Stattdessen haben Straftäter im Allgemeinen einen sehr kriminellen Lebensstil. Da sitzt einer schon mal zehn Jahre im Gefängnis wegen mehrfacher schwerer Körperverletzung, kommt frei, ist kaum auf freiem Fuß und kommt auf die Idee, den kleinen Kiosk gleich um die Ecke der nächsten Polizeistation zu überfallen.
Gottfredson und Hirschi gingen davon aus, dass manche Menschen einfach generell keinen Respekt vor dem Gesetz haben und unter einem chronischen Mangel an Selbstkontrolle leiden. Alles was für diese Menschen ausreicht, um eine Straftat zu begehen ist die Verfügbarkeit, die Gelegenheit und der passende Impuls. Man geht davon aus, dass so viele Tankstellen und Kleinwarenhändler überfallen werden, weil sie eben verfügbar sind (vergleiche Englisch: covenience store).
Gewalt seitens verschiedener Minoritäten ist ein Thema, das uns täglich auch in den Medien begegnet. Diese Gewalt wird oft durch die Unterdrückung durch andere Gruppen gerechtfertigt, doch schauen wir uns die Datenlage genauer an, so sind die meisten Gewaltverbrechen, die von Angehörigen einer Minorität ausgehen, gegen ein anderes Mitglied der gleichen Gruppierung gerichtet. Auch dies würde für den Aspekt der Verfügbarkeit sprechen. Wir sind uns auch bewusst, dass ein großer Teil von Straftaten von Menschen aus ärmeren Gesellschaftsschichten begangen wird, aber gleichzeitig sind auch gerade arme Menschen die häufigsten Opfer von Gewaltverbrechen. Kehren vielleicht auch deswegen Täter so oft wieder an den Tatort zurück, weil er sich eben in ihrem direkten Umfeld befindet, weil er verfügbar ist? Hirschi und Gottfredson würden dies bejahen.
Somit verlieren wohl die meisten Taten ihren OceansEleven Charakter, der sie wie geplante Aktionen als Teil einer langen Verbrecherkarriere aussehen lässt, sondern werden zu einfach unbedachten Impulsverbrechen, die vielleicht sogar erst aus dem Moment zuvor entstanden ist.
Vielen Studien zufolge haben Verbrecher auch im Alltag keine Selbstkontrolle. Ihr Lebensstil unterscheidet sich von dem der meisten Menschen. So hat die Mehrzahl aller Straftäter eine Neigung zu Beschäftigungen wie Rauchen, sich bis zum Exzess betrinken, zu ungeplanten Schwangerschaften, unstabilen Beziehungen und Glücksspiel, um nur einige Beispiele zu nennen. Nur auf kurzfristige Vergütungen aus zu sein, kann so schnell zu einem verkorksten Lebensstil führen, weil Menschen mit fehlender Impulsselbstkontrolle zu selten daran denken, wie sich ihr Verhalten auf die Zukunft auswirken könnte, bevor sie es ausführen. Ohne Selbstkontrolle scheint es unmöglich zu sein Geld in Aktien anzulegen, statt es gleich für Sinnliches, Spannendes oder Spaßiges auszugeben, oder sein Geld zurück zu legen, weil man doch von einem Ferienhaus im Süden träumt, statt sofort einen krassen Drogentrip zu erleben. Einige Frauen beginnen schon nach Weihnachten ihre Diät für den nächsten Sommer und die dazugehörige Bikinifigur, was ohne Selbstkontrolle unvorstellbar scheint und spätestens nachts vor dem für den Notfall gefüllten Kühlschrank enden würde.
Um ein Verbrechen zu begehen braucht man keine großen Fähigkeiten, keinen Plan, aber es bringt kurzfristige Belohnung und einen Adrenalinkick. Wie käme man schneller an Geld, Aufregung und zugleich Statuserhöhung unter den Kollegen? Das Problem ist nur, dass das neue Leben, das man dadurch anstrebt, auch weiterhin finanziert werden muss, während unser alt bekanntes Problem der Impulskontrolle bestehen bleibt. Mit dem ‚neu erwirtschafteten Geld‘ wird also genauso umgegangen, wie mit dem wenigen, das man davor hatte und so bleibt am Ende des Monats wieder nichts, weswegen man sich erneut nach schnellen Möglichkeiten zum Geldgewinn umschauen muss. Und so schließt sich der Kreislauf des Geldbeschaffens und –ausgebens, ein Mensch bleibt auf der kriminellen Schiene hängen.
Ein gesundes Maß an Selbstkontrolle hilft uns unangemessene Impulse zu übergehen und gibt uns die Kapazität uns geeignetere Verhaltensweisen zu überlegen.
Auch wenn Menschen von Natur aus aggressiver veranlagt sind, können sie mittels Selbstkontrolle lernen je nach Anlass unterschiedlich zu reagieren und diesen Inhibitionsmechanismus dazu benutzen, Frustration und Provokation auszuhalten, ohne mit Gewalt zu reagieren. Das entspräche der erfolgreichen Sozialisation eines Straftäters.
Manchmal fehlt aber einfach die Stärke sich gegen einen Impuls zu wehren. Jeder Impuls hat eine bestimmte Stärke und so muss die Reaktion, die den Impuls verhindern soll, eine eben solche besitzen. Ist die Stärke zu gering zu wiederstehen, handeln wir, obwohl wir es später vielleicht bereuen könnten. So werden nachts, nachdem man seine Ressourcen am Tag sehr erschöpft hat, die meisten Diäten abgebrochen, aber auch die meisten Verbrechen begangen. Emotionaler Stress raubt uns diese Stärke und Kapazität ebenso.
Allerdings gibt es auch Menschen, denen diese Stärke chronisch fehlt und bei denen man schon im Kindesalter beobachten kann, dass sie sich in ihrer Entwicklung gegenüber anderen Kindern unterscheiden und zum Beispiel bei Experimenten, bei denen es um längerfristige Genugtuung, wie das bewusste Warten auf ein Stückchen Schokolade, geht, versagen. Dadurch kann relativ verlässlich vorhergesagt werden, dass diese Menschen auch im Erwachsenenalter unter ihrer fehlenden Selbstkontrolle leiden werden.
Ein weiterer Grund, der die Menschen in ihrer Gewaltbereitschaft unterscheidet, sind die Standards mit denen sie aufwachsen, oder die in dem Milieu gelten, in dem sie sich bewegen. Wie schnell sich ein Standard verändern kann sehen wir an dem Beispiel des Militärs. Anfangs haben die meisten Soldaten, die in den Krieg ziehen müssen, erfahrungsgemäß noch Hemmungen zu schießen. Doch mit der Zeit wird selbst das Schießen auf Menschen zu einer Aufgabe, die der Soldat in seiner Uniform nun einmal zu erledigen hat, auch wenn er sich dies früher nie zugetraut hätte.
Es kommt auch immer darauf an, inwiefern Gewalt in verschiedenen Kulturen gerechtfertigt werden kann. Bei uns wird sie zum Beispiel nur als Notwehr, zum Selbstschutz akzeptiert. Aber das bürgerliche Westeuropa ist nicht das Maß der Welt. Deswegen sollte man, um Vergleiche zu ziehen, stets die Standards der jeweiligen Kultur und Umwelt heranziehen.
Der wichtigste Aspekt der Selbstkontrolle scheint aber, Studien zufolge, eindeutig die Fähigkeit der Selbstbeobachtung, des self-monitoring zu sein. Denn ohne sich dessen gewahr zu werden, was in einem passiert, ist es absolut unmöglich sich und seine Impulse zu kontrollieren, da man sich erst ihrer bewusst wird, sobald sie ausgelebt wurden. Ohne Selbstbeobachtung keine Impulskontrolle.
Dies wird uns auch besonders deutlich gemacht durch die Tatsache, dass Alkohol diese Fähigkeit stark herunter setzt und dass Alkohol bei den meisten Straftaten eine nicht unwesentliche Rolle spielt. In vielen Fällen kann man sogar davon ausgehen, dass bewusst Alkohol konsumiert wird, um die eigene Hemmschwelle herunter zu setzen, mehr zu handeln statt zu denken.
Erschreckenderweise ist dies sogar die Methode der Wahl, um junge Soldaten auf die Schlacht vorzubereiten und sie von ihren eigenen Gewissensbissen abzuschirmen. Auch Nazi-Offiziere und KZ-Aufseher sollen angesichts der Unmenschlichkeit, der sie Tag für Tag ausgesetzt waren und die sie nüchtern vielleicht nicht ertragen oder zugelassen hätten, ständig sturzbetrunken gewesen sein. Wir müssen uns also selbst beobachten können, um unsere Impulse zu kontrollieren, uns aber auch unserer persönlichen Standards bewusst zu sein. Fehlt dies, führt das den Menschen einfacher in eine Art Deindividuation, in der nicht mehr das moralische Bewusstsein des Einzelnen, sondern die Dynamik und Kontrolle der Gruppe in den Vordergrund tritt.
Aber ist es wirklich so, um noch einmal auf unseren Ehemann vom Anfang zurück zu kommen, dass unser netter Schläger von nebenan nun einmal ein Problem mit seiner Selbstkontrolle hat und nicht anders kann, als in Stresssituationen seine Frau zu verprügeln? Gehen wir hier wirklich von einem Phänomen des Überwältigt seins aus, in dem kein Platz mehr für vernünftige Gedanken ist? Oder müssen wir im letzten Moment doch noch unser Einverständnis geben, dass unser Organismus sich in aggressiven Gesten ergehen kann? Es ist nämlich, auch juristisch, ein ganz gravierender Unterschied zwischen dem blanken Verlust und dem bewussten Abgeben der Selbstkontrolle. Deshalb ist zu klären, ob es eine endgültige Entscheidung darüber gibt, ob ein Impuls ausgeführt wird, oder ob er unterlassen wird. Denn bei der Frage, ob jemand wieder straffällig wird, müsste man überprüfen können, ob der Täter während seines kriminellen Handelns seine Impulse nicht zurückhalten konnte. Wenn das der Fall ist, dann müsste das Ziel einer Rehabilitation sein, das Unterdrücken unangebrachter Impulse zu lernen.
Nach Baumeister et al gibt es allerdings nur wenige Impulse, denen wirklich nicht widerstanden werden kann. Auch im Ernstfall müsse der Täter im letzten Moment immer noch sein bewusstes Einverständnis geben, um die Tat tatsächlich auszuführen. Dies spräche ganz entschieden gegen die Glaubhaftigkeit der Aussage eines Strafverteidigers, der beteuert, sein Mandant hätte wirklich nicht anders gekonnt, es sei einfach so passiert. Dies lässt sich psychologisch nicht rechtfertigen.
Berkowitz zitierte hierfür auch einen Mann, der wegen Körperverletzung am Liebhaber seiner Frau angeklagt war, und sich entschuldigte: „Ich habe sogar kurz daran gedacht, ihm die Flasche einfach über den Kopf zu hauen, aber ich wollte ihn ja nicht töten!“. Dieser gutgemeinte Beschwichtigungsversuch spricht eindeutig dafür, dass hier nicht ein vollkommener Kontrollverlust aus Eifersucht stattgefunden hatte, sondern der Ehemann sich bewusst darüber war, dass er den Lover gerade schwer verletzte. Ebenso stellte ein Gefängnispsychologe durch clevere Fragen heraus, dass auch ein Gewalttäter seine Frau immer nur so lange prügelte, wie er sicher sein konnte, dass sie die Schläge auch überleben würde.
Juristisch kritisch müsste man nicht nur die bewusste Kontrollabgabe betrachten, sondern auch die gesellschaftlich unterschiedlichen Muster von Gewalttoleranz. In benachteiligten Schichten sind Menschen, die Gewalt als Konfliktlösung anwenden, wahrscheinlich nicht nur von Wünschen nach Prestige und Ansehen gesteuert, sondern wachsen mit anderen Standards und Normen auf, die einen durchaus ‚großzügigeren‘ Umgang mit Gewalt beinhalten und diese in bestimmten Situationen eher als angebracht sehen würden, als zum Beispiel die amerikanische Oberschicht. Doch auch in Subkulturen wird Gewalt niemals verherrlicht, oder als etwas Positives gesehen und es herrschen Ideale wie der Respekt vor anderen. Es ist nur akzeptierter, in einigen Situationen einfach mal die Kontrolle zu verlieren.
Auch interessant ist, dass manche Malaysier ursprünglich buchstäblich Amok gelaufen und durchgedreht sind, wenn sie mit stressigen Situationen konfrontiert waren, denn es war allgemein akzeptiert, dass dies passieren konnte. Doch als das Volk plötzlich unter britischer Herrschaft stand und jene ‚Amokläufer‘ eingesperrt wurden, sank die Quote der Malaysier, die spontan die Kontrolle verloren, was darauf hinweist, dass uns die Gesellschaft vorgibt, was erlaubt ist und was nicht. So kann Gewalt gesellschaftlich verbreiteter sein, ohne dass sie verherrlicht wird. Eine Gesellschaft steckt nur die Grenzen, bis zu denen Provokation und aggressive Reaktionen aus- und zurückgehalten werden sollten.
Allgemein ist es aber schwieriger Wut herunter zu schlucken, als der Befreiung nachzugeben, sie auszuleben. So wissen Menschen, die das Rauchen oder Trinken aufgeben wollten, wie schwer es wirklich sein kann, die eigene Selbstkontrolle zu bewahren.
Nach Baumeister ist der Mangel an Selbstkontrolle sogar die Krankheit der modernen Gesellschaft, was er uns durch aktuelle Probleme wie --- vor Augen führt.
Aggression and the self: high self-esteem, low self-control, and ego threat ; Roy F. Baumeister und Joseph M. Boden
Self regulation failure –an overview ;Baumeister, Heatherton
The self in social psychology; Roy F. Baumeister
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analytisch und konzeptionell guter und origineller Artikel, der auch für einen Fachfremnden wie mich (mathematischer Systemingenieur) spannend und nachvollziehbar ist.
AntwortenLöschenMit freundlichem Gruß - kind regards - meilleurs salutations - cordiali saluti - cordiais saudações
Wein-Brasilien GmbH & Co KG
Dr. Helmut Fritzsche
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Haha, vielen Dank Herr Dr. Fritzsche!
AntwortenLöschenDiese Ausarbeitung habe ich in meinem zweiten Bachelorsemester in einer juvenil-studentischen Übernachtaktion gefertigt, was an den Rechtschreib- und Satzbaufehlern und daran, dass ich mich gar nicht mehr daran erinnert habe, deutlich zu erkennen ist.
Trotzdem freue ich mich sehr und vielleicht sogar umso mehr, dass mein 'Artikel' für Sie, trotz der vergangenen Jahre, nicht an Relevanz verloren zu haben scheint, dass sie sich vielleicht sogar gezielt nach Artikeln zu diesem oder einem ähnlichen Thema umgesehen haben und ihn zu schätzen wissen.
Noch eine Frage vielleicht: Ist 'der Geschmack nach Feuersteinfunken' wirklich ein gängiges Ausdrucksmittel?
danke - thank you - grazie - obrigada
rotfuchs.mohnblau GmBH
Ramona Zenk